Fröhliches Scheitern

bakunin
Ich sehe mich in einem großen Hörsaal - Ausweichquartier nach Zwangsauszug aus dem Schloß wegen Überfüllung. Um mich ein Häuflein Hauptamtlicher mürrisch betrachtend den großen Rest: Germanistikstudenten brauchen auch einen Philoschein. Warum das Gedränge? Das Thema heißt Kropotkin . Blanke Germanistenaugen harren der Schandtaten.
Über dem Pult schweben die zwei doublespeak-Standardgleichungen des Themas:
Anarchismus ist Anarchie.
Anarchie ist Terror.

Schon klar, das der Dozent genau das ventilieren wird: der deutsche Herbst liegt ja gerade erst zurück. Die Jugend denkt jedoch in ästhetischen Kategorien und freut sich auf jenen russischen Fürsten und dem behaarten adeligen Großbürger, in dem Marx einen Volltrottel oder gar Agenten des Zaren wiederfand.
Bakunin , der Anarchist des fröhlichen Scheiterns. Er kam 1848 ein paar Tage zu spät für die Barrikaden der Februarrevolution von Paris. Von der Revolutionsregierung zum revoluzzen nach Polen geschickt, erreicht er Warschau nie. Bleibt stattdessen in Prag hängen und scheitert. Verzweifelt aber vergeblich versuchte er letztlich auf den Barrikaden Bolognas den Heldentod zu sterben. Es war ein Bett in Bern, das ihm letzte Heimstatt bot. Gefühlsbetont, romantisch, unfähig für komplexe Strukturen, Erfinder kruder Philosophien, inzestös und impotent. So wird man sexy für die Nachwelt. Für die 68er ff stand er auf einer Stufe mit Onkel Ho.
Einer seiner legitimer Nachfolger in Sachen Revolutionärer Hedonismus ist Comandante Ché Guevara. Auch er Großbürgersohn mit romantisch familärem Verständnis für Herrschaft und ebenso zum Scheitern verurteilt. Vorläufiges Ende des Anarchismus: Cohn-Bendit auf dem Schoß von Christiansen.

Der nächste Zug geht erst in 45 Min. Unweit des Bahnhofs eine Lokalität mit karibischem Genamse. Bizarre Innenwelt: Strohdächern nachempfundene Stellagen beherrbergen eine von einem Schwarzen südamerikanischer Herkunft bewirtschaftete Theke. Seine Angestellte eine Mischung aus Shelly Duvall und Joni Mitchell. Nur noch drei Tische besetzt: irgendwas im Hintergund, ein schwules Pärchen mittschiffs und vor uns das Zentrum des Abends: bunt gemischte Wundertüte. Personal: ein Gitarrero in camouflage, große Brille und Baskenmütze, eine in knappes Weiß gekleidete Senorita wie zu Carnevale, ein schlanker Schwarzer, ein bißchen Staffage, ein bezopfter spitznäsiger Photograph und ein dazugehöriger Senior Typ Professor. Letzterer warscheinlich Ethn- oder Soziologe im eindeutigem Auftrag. Seine müden Augen verfolgen das Geschehen überm Brillenrand ohne daß seine Intention ersichtlich wird. Die Wände sind hochdekoriert mit Heldenbildern: Ernesto Ché Guevara. Auf einem niedrigen Tisch hockt ein grummelnder Beamer und entwirft Bilder von schuftenden aber lachenden Indios in den Feldern. Es mischen sich Lokomotiven und Erntemaschinen frühindustriell dazu. Wehmütige Erinnerungen an Lateinamerikatage spülen watteweich in den Kopf. Benebelt vom Rauschmittel der fernen Revolution Geld für Waffen in einem Tuch gesammelt.

"Bäähh!" bölkt die Begleitung und bugsiert das Weißbier resolut ausser Reichweite. "Schmeckt nicht!" Dem kann ich als Pilstrinker nur zustimmen. Die Knappbekleidete biegt sich zu Gesängen und Guitarrenklängen des Kopf-im-Nacken-Aushilfsanarchisten und in den Armen des schlanken Schwarzen. Das sieht gekonnt aus, wenn nicht gar gelernt. Dem großen Tisch fallen die Augen aus und der Photograph fällt auf die Knie vor Geilheit beim Knipsen. Hochformat Querformat Hochformat blitz blitz und das Zöpfchen wippt im Takt. Prärevolutionär und lächelnd spült der Wirt flüssig die letzten Gläser.
Nebenan beginnt Gezänk um die Rechnung. Einer reißt sich aus den Armen des Anderen, eilt zahlen und tut vertraut mit der Bedienung.
"Ich übernehme das hier" beendet meine Begleitung solcherart Possenspiel, ich bin so frei und wanke eilig davon, auf das ich nicht die letzte Bahn verpasse.
Unterwegs löst sich simpel alles in seine griechischen Bestandteile auf: An = ohne; archos = Herrscher. Höchstens der Zugbegleiter könnte da anderer Ansicht sein.

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