Bildersturm

Kopfhaut

eisIch werfe meinen Kopf in den Nacken und starre die Dachrinne an. Ich hebe nicht den Kopf Stockwerk für Stockwerk emporkletternd an der rauh geputzten Fassade mit den seltsam außenliegenden Strebpfeilern, an denen das Auge nicht so leicht abrutscht. Auch nicht linksrechtslinksrechts an den tief innen liegenden Fenstern vorbeischweifend. Mit "RFID!" hatte er seinen thread gefunden. Diese kleinen Chips, die demnächst selbst im Obst versteckt den Konzernzentralen zuwispern, was ich so treibe in den geheiligten Kaufhallen. Er spricht sich warm mit harmlosen Betrachtungen über die Vorteile bei der Lagerhaltung. Seine kleinen engen Augen bohren fahrig in meine Richtung, als hätte er in mir den einzig kompetenten Adressaten für dieses Thema gefunden. Hoffentlich setzt sich da nicht eine Taube hin und scheißt uns auf den Tisch, denke ich streng. Warum habe ich eigentlich keine Angst, daß mal etwas Schweres von da oben runterfällt? Was, wenn einer der Insassen der Büros einen emotionalen Tiefstand erreicht und mit dem Monitor nach dem Fenster wirft? Wieso dürfen hier Tische aufgebaut werden? Den Redeschwall unterbrechen diese Überlegungen nicht.
"Kopfhaut!" sage ich barsch nach oben. "Unter die Kopfhaut damit!" Ich lasse dabei das Haupt schwer fallen und sehe ihn ernst an. In Verteidigungshaltung aber ohne Unterbrechung schwallt er weiter und baut meine Vokabeln sauber ein, womit er erwartungsgemäß beim Überwachungsstaat angelangt ist. Ich denke, vielleicht sollte ich mit ihm auftreten: Standup Poetry. Ich rufe ihm in unregelmäßigen Abständen Stichwörter zu und er baut sie ohne Pause in seine Suada ein. So ein bißchen wie Pozzo und Lucky. Rede, Schwein! Harald Schmidt hat den Lucky in Bochum gegeben, denke ich, und bin auf eine Art froh, daß ich sein leicht ergrautes Haupthaar noch nie ohne Zopfgummi gesehen habe.
Ich wende den Kopf zu ihr. Sie guckt wie: "Siehste. Ihm fehlt halt das Gen für soziale Situationen!" während sie an ihrer Zigarette mümmelt.
Meine rechte Hirnhälfte hält mir die Ohren von innen zu. Die Mimik ihrer Tochter ist mit Kaugummi beschäftigt und sie wirft mir Blickblitze zu, wenn ich es nicht sehen soll. Generationen müssten neu erfunden werden, gäbe es kein Kaugummi, denke ich etwas zusammenhangslos und überlege, wann er denn bei weltumspannenden RFID-Verschwörungen angelangt sein wird. Sie spricht dazwischen, das sie mir noch was geben wolle, was im Auto sei. "Was denn geben?" frage ich um die Gesamtlage zum Quietschen zu bringen. Lenke dann aber schnell ein, um keine Verlegenheit aufkommen zu lassen. Wir stehen freundlich auf und gehen zügig. Die Tochter ist schon grußmurmelnd weg und er sitzt da und nichts mehr spricht aus ihm außer den kleinen runden traurigen Augen.

Perfekter Tag

marktWährend die heimatliche Region mit Sturm und Leichentuch marodiert wird, setze ich mich in eine östliche Landeshauptstadt ab. Short Messages raunen vom Herzstillstand einiger Teile der Provinz und ich habe eine perfekte Morgensonne aus fleckenlosem Azur. Kitschiger Puderzucker segelt von Autodächern.

Der Hauptbahnhof ist scheints nur Haupt: die Funktion erschließt sich nur auf dem unteren Niveau. Realiter ist es eine mehrstöckige Kaufhalle wie jede andere auch. Womöglich könnte ein Ausgesetzter hier jahrelange überleben, ohne das Gebäude verlassen zu müssen.
Beim Vorüberhasten kippt uns eine erhöhte Polizeikapelle lauwarmen gesüßten Griesbrei in die Ohren. Eine swingende Vollblechversion von "Imagine" mit ambitionierter Phrasierung, sodaß ich erst nach einigen zehn Takten das harmonische Grundgerüst erkenne. "Auch das haben wir Yoko zu verdanken!" lästermaulen wir uns an den Wochenenddienstschiebenden vorbei, ohne ihre staatsdienernden Infozettel zur Kenntnis zu nehmen.

Wir erstürmen den Wochenmarkt. Während mein Gastgeber mit gerunzelter Stirn Auslagen studiert, verankere ich mich zwischen Wurstware und Käse schräg gegenüber der Italienischen und französischen Spezialität. Auf der Bühne eine ob der Kälte Zartrosane und ein Schwarzer mit sehr rundem Gesicht. Hase Cäsar, denke ich beim Anblick seiner perfekt gestalteten Schneidezähne, die nicht eine Sekunde von den vollen schwarzen Lippen verdeckt werden. Nach oben hin rundet ihn ein fesches Käppi ab und heiter betextet er eine Gruppe Endzwanziger unterschiedlicher Nationalität, die seinen Wagen am rechten Rand belagern. In unerklärlicher Choreographie umtanzen sie sich und sprechen lachend dazu. Hier fehlt die ordnende Hand und tatsächlich: ein Ruck geht durch die Gruppe,es nähert sich eine weitere Person, unübersehbar das Alphatier dieser Vereinigung, armiert in Jeans und Lederjacke auf grobstolligen hohen Schuhen. Mit dem letzten Schritt steht er mitten in der Gruppe begrüßt als erstes den Speziälitätenverkäufer und wendet sich anschließend bald hierher, bald dorthin seinen Gefährten zu. Die Füße schulterbreit mit Fußwinkel etwas unter einhundert Grad stecken die Arme in den aufgesetzten Jackentaschen und die abgewinkelten Ellenbogen schaffen viel umbauten Raum. Das wiederholte leichte Drehen lassen einen halben Rotationskörper entstehen. Das Wippen in den Knien ist nicht der Kälte geschuldet.
Das beherrschte Gesicht ist moderat verwüstet. Der Kopf ruckelt den Verkehrsraum ab. An seinen Schultern hängen die Gesichter seiner Gefährten, mal rechts mal links und sich abwechselnd in wiederum unerklärlicher Rangfolge.

Und da! Ich hatte gehofft, daß es passieren würde und es passiert! Ein warmer Strom durchfährt mich und ich muß sehr heftig lächeln. In den Knieen wippend fährt er mit den zu knochigen Kämmen gekrümmten Finger in zwei drei kurzen rhytmischen Bewegungen durch sein nach hinten geglättetes üppiges Haupthaar. Und wieder! Ich strahle. Es wird ein perfekter Tag werden..

Ohne Titel

bahn
Das Besondere an jener Bahnstrecke ist die für viele Kilometern direkt nebenan verlaufende Bundesstraße. Dort sehen sich die Gefangenen der kleinen Paralelluniversen aus Blech und Plaste, meist in Einzelhaft, plötzlich einigen Dutzend Beobachtern ausgesetzt. Nicht jeder ist da manierlich oder läßt sich gern beim Nasebohren ausgespähen und den getönten Scheiben traut man nicht. Deshalb wird das Temo variiert. Sie bleiben mal kurzzeitig zurück, holen dann wieder auf, verschwinden plötzlich nach rückwärts oder auch nach vorne. Als wenn ein hyperaktives Riesenkind seine Spielsachen ohne oder nach einem geheimen Plan hin und her schiebt.
Die Betrachter dieseits der ÖPNV-Trennlinie sind in der besseren Lage: sie wissen ohnehin, daß sie in der Öffentlichkeit weilen. Eingezäunt mit auf Nebensitzen verteilten Rucksäcken lauschen sie ins sich rein: steif mit Knopf im Ohr. Oder üben den Daumen am cell phone. Auch das biedere Buch auf meinen Knien dient heute der Tarnung.
An einem Nachmittag wie diesem ist die blauweißgelbe Blechraupe gut besetzt. Generell sollten in allen von mir genutzten Zügen in jeder Bank zumindest eine Person sitzen, vorzugsweise weiblich, damit ich was zu sehen oder gar zu quatschen habe. Allerdings setze ich mich nicht zu den Schönen und auch nicht zu den Blutjungen. Bei beiden störe ich nur. Ich lasse mich also artig bei einem Pärchen nieder, vermutlich Mutter und Tochter, zumindest nach Alter und Vertrautheit. Die mir gegenüber sitzende Mutter ist die ältere Zwillingsschwester von Ulrike Volkerts: spitze Nase, hohle Wangen, leicht narbiges Gesicht, große getuschte dunkle Augen. Die kurzen sehr schwarzen Haare leicht lockig und mit tiefer Haaransatz, fast wie ein Haarteil. Aus der weinroten Lederjacke ragen links und rechts schmale faltige Hände und unten ein paar dünne Jeansbeinen. Der gefrorene Blick ist ständig nach draußen gerichtet, auch im Gespräch. Ich suche vergebens ein bißchen Augenkontakt. Neben mir die Junge: sie hat ihrer Mutter ein paar Pfunde abgenommen: so bleibt es in der Familie. Sie studiert intensiv das Kinoprogrammheft und vertieft sich in die Rezension eines Films mit "Hochzeit" im Titel und später irgendwas Martialisches.
Auf dem Fensterbrett stehen Mutter und Tochter Handtasche. Die aufrechtstehenden Henkeln kenne ich aus den sechziger Jahren und sie sehen auf eine merkwürdige Art obzön aus. Die Mutter schließt die Augen, ich lese, und schaue oft hin. Zur Kontrolle öffnet sie manchmal ganz schnell ein Lid und läßt es wieder zufallen, wenn sich unsere Blicke treffen. Die Tochter bedenkt mich mit eine paar Seitenblicken. Ich fühle mich behaglich.

Hafenstunden

watusi Es ist gleich um die Ecke.
Besser kann man nicht wohnen in dieser Stadt. Alles liegt Ihr buchstäblich zu Füssen.
Ihr Leben als Großbaustelle. Alle Behörden haben gleichzeitig beschlossen, mit der Sanierung anzufangen. Was ist zu sanieren? Was muß schleunigst dem Baggerzahn zum Opfer fallen?
Ein paar Ecken wüßte ich schon. Und sie auch. Aber geht das jetzt?
Watusi-Bar : Sicher waren wir Senioren. Aber die Jungs und Mädchen waren lieb mit uns. Die Musik war gut. Sie hatte bestimmt Anlaufschwierigkeiten. Mir macht sowas nichts.
Sie hat tatsächlich gelacht. Das Gesicht geht dann märchenhaft in die Breite, das Haupt strebt leicht nach links, das Kinn auf die Brust und das linke Auge gerät ausser Kontrolle. Wie hab ich das geliebt, damals vor ein paar zehn Jahren. Diesen Zauber gibt es wieder.
Vergessen sind ganz schnell die schwarzrandigen Augen, die schwarze Abwehruniform, die strengen Haare, die dicken Ringe, die schneidige Gürtelschnalle.

Sie sagt "Zahnleiste", ich sehe wunderschöne Zähne.
Sie sagt "desolater Zustand", ich sehe Spuren, die nicht verborgen werden sollten. Die Spuren einem Leben zugehörig.
Sie sagt "Männer sind so", ich sehe Einsamkeit.
Sie sagt "Die zehn Jahre Jüngeren, sind schon ganz anders", ich sehe Torschlußpanik.
Sie sagt "Du hast recht, damals, das war die schönste Zeit in meinem Leben", ich muß ihr beipflichten.
Sie sagt "diese flache Amplitude wünsche ich mir, Du glaubst gar nicht wie", ich sehe Sicherheit zu welchem Preis.
Sie sagt "Nie wieder ein verheirateter Mann", ich staune.
Sie sagt "Dann mache ich mich mal zurecht, da solltest Du mich mal sehen", ich zweifele.
Sie sagt "Mal Leute einladen, kochen, essen, quatschen", ich sehe mich auch dabei.
Sie sagt "Nach Hause kommen, es gemütlich haben", ich sehe was sie meint.

Ach, da ist doch alles im Argen und nichts ist verloren. Ein bißchen Zeit, ein bißchen Trost, ein bißchen Hilfe, ein bißchen...Mut.

Nur dieser Kerl da, den schieß mal flugs auf die Rückseite des Mondes...

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