Ohne Titel

bahn
Das Besondere an jener Bahnstrecke ist die für viele Kilometern direkt nebenan verlaufende Bundesstraße. Dort sehen sich die Gefangenen der kleinen Paralelluniversen aus Blech und Plaste, meist in Einzelhaft, plötzlich einigen Dutzend Beobachtern ausgesetzt. Nicht jeder ist da manierlich oder läßt sich gern beim Nasebohren ausgespähen und den getönten Scheiben traut man nicht. Deshalb wird das Temo variiert. Sie bleiben mal kurzzeitig zurück, holen dann wieder auf, verschwinden plötzlich nach rückwärts oder auch nach vorne. Als wenn ein hyperaktives Riesenkind seine Spielsachen ohne oder nach einem geheimen Plan hin und her schiebt.
Die Betrachter dieseits der ÖPNV-Trennlinie sind in der besseren Lage: sie wissen ohnehin, daß sie in der Öffentlichkeit weilen. Eingezäunt mit auf Nebensitzen verteilten Rucksäcken lauschen sie ins sich rein: steif mit Knopf im Ohr. Oder üben den Daumen am cell phone. Auch das biedere Buch auf meinen Knien dient heute der Tarnung.
An einem Nachmittag wie diesem ist die blauweißgelbe Blechraupe gut besetzt. Generell sollten in allen von mir genutzten Zügen in jeder Bank zumindest eine Person sitzen, vorzugsweise weiblich, damit ich was zu sehen oder gar zu quatschen habe. Allerdings setze ich mich nicht zu den Schönen und auch nicht zu den Blutjungen. Bei beiden störe ich nur. Ich lasse mich also artig bei einem Pärchen nieder, vermutlich Mutter und Tochter, zumindest nach Alter und Vertrautheit. Die mir gegenüber sitzende Mutter ist die ältere Zwillingsschwester von Ulrike Volkerts: spitze Nase, hohle Wangen, leicht narbiges Gesicht, große getuschte dunkle Augen. Die kurzen sehr schwarzen Haare leicht lockig und mit tiefer Haaransatz, fast wie ein Haarteil. Aus der weinroten Lederjacke ragen links und rechts schmale faltige Hände und unten ein paar dünne Jeansbeinen. Der gefrorene Blick ist ständig nach draußen gerichtet, auch im Gespräch. Ich suche vergebens ein bißchen Augenkontakt. Neben mir die Junge: sie hat ihrer Mutter ein paar Pfunde abgenommen: so bleibt es in der Familie. Sie studiert intensiv das Kinoprogrammheft und vertieft sich in die Rezension eines Films mit "Hochzeit" im Titel und später irgendwas Martialisches.
Auf dem Fensterbrett stehen Mutter und Tochter Handtasche. Die aufrechtstehenden Henkeln kenne ich aus den sechziger Jahren und sie sehen auf eine merkwürdige Art obzön aus. Die Mutter schließt die Augen, ich lese, und schaue oft hin. Zur Kontrolle öffnet sie manchmal ganz schnell ein Lid und läßt es wieder zufallen, wenn sich unsere Blicke treffen. Die Tochter bedenkt mich mit eine paar Seitenblicken. Ich fühle mich behaglich.

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